Falsches Moralisieren über den Tod der «Frankfurter Rundschau»

Die «Frankfurter Rundschau» ist pleite. Die «Gratiskultur im Internet» ist nicht schuld. Und die Paywall nicht das Allheilmittel für die Zeitungsverlage.

Die «Frankfurter Rundschau» ist pleite. Die «Financial Times Deutschland» steht offenbar auf der Kippe, noch im November soll über die mögliche Einstellung entschieden werden.

Die deutschen Verleger und Verlagsmanager reagieren aber nun nicht, indem sie sagen: «Huch, die Einschläge kommen offenbar näher, Newsweek war ja noch weit weg, aber langsam sollten wir uns wirklich fragen, ob unser Blatt nicht das nächste ist, wenn wir nicht grundlegend etwas ändern», sondern sie flüchten sich in die immer gleichen reflexartigen Schuldzuweisungen.

Für links bis rechts ist die «Gratiskultur» im Internet mindestens mitverantwortlich. Zwar nennen alle mehrere Gründe, so Ines Pohl von der taz («Die Frankfurter Rundschau stand für einen festgefahrenen Gewerkschaftsjournalismus.») oder FAZ-Herausgeber Werner D’Inka («Das links-grüne Blatt hielt trotz schwindender Leserschaft zu lange am überregionalen Anspruch fest.»), aber das böse Internet kommt immer an prominenter Stelle vor.

Und obendrauf wird immer moralisiert. D’Inka schreibt:

So oder so sollte das ungewisse Schicksal der „Frankfurter Rundschau“ einer an die Gratismasche der digitalen Welt gewöhnten Gesellschaft Anlass zum Nachdenken darüber geben, was ihr unabhängige Zeitungen und eine Vielfalt der Stimmen wert sind.

Stimmt, so müsste es doch funktionieren – wir appellieren einfach an das schlechte Gewissen der Leser:

«Mitbürgerin und Mitbürger! Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern tausch jetzt Dein Sky-Bundesliga-Paket und Deine Handy-Flat gegen ein Zeitungs-Abo ein. Du weisst schon: Pressefreiheit, Vielfalt der Stimmen, vierte Gewalt… für die Gesellschaft und so weiter. Wir sitzen doch alle im selben Boot!

Vergelt’s Gott
Dein Verleger»

Beim aktuellen Parteitag der KP Chinas würde uns eine Ansage, dass die Menschen sich für das grosse Ziel gefälligst zusammenreissen sollen, nicht weiter wundern. Unsere Marktwirtschaft orientiert sich aber eigentlich eher an Adam Smith und seiner unsichtbaren Hand des Marktes. Die Bürgerin muss sich keineswegs aufraffen zu tun, was am besten für die Gesellschaft ist (auch wenn sie heutzutage an jeder Ecke dazu ermahnt wird), sondern sie kann guten Gewissens machen, was am besten für sie ist, und das wird in der Summe zum besten für die Gesellschaft. Zitat Adam Smith (im Original bei Wikipedia):

«Tatsächlich fördert er in der Regel nicht bewusst das Allgemeinwohl, noch weiß er, wie hoch der eigene Beitrag ist. (…) Er wird in diesem wie auch in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, der keineswegs in seiner Absicht lag. Es ist auch nicht immer das Schlechteste für die Gesellschaft, dass dieser nicht beabsichtigt gewesen ist. Indem er seine eigenen Interessen verfolgt, fördert er oft diejenigen der Gesellschaft auf wirksamere Weise, als wenn er tatsächlich beabsichtigt, sie zu fördern.»

Ohne grosse empirische Fundierung darf man wohl behaupten: Die meisten Leute haben ihre Zeitung nicht abonniert, weil sie das als ihre Bürgerpflicht empfinden, sondern sie lesen sie zunächst wegen des persönlichen Nutzens. An der «taz» von Frau Pohl kann man das Potenzial des Modells «In die Pflicht nehmen» vermutlich gut ablesen, denn deren Abo-Werbung hat seit Jahrzehnten Appellcharakter. Das Ergebnis: 12’175 «GenossInnen» und rund 50’000 Abonnenten. Eher überschaubar.

Umgekehrt: Kaum jemand, der in den letzten zehn Jahren sein Print-Abo einer Tageszeitung gekündigt hat, wollte damit böswillig dem Verlag oder der Demokratie schaden. Sondern der Nutzen hat nicht mehr gestimmt, aus welchem Grund auch immer. Am häufigsten habe ich im Bekanntenkreis gehört, man habe die Zeitung abbestellt, nachdem man realisiert hatte, dass sie über Monate weitgehend ungelesen ins Altpapier gewandert war. Clayton Christensen nennt den Nutzen «jobs to be done», in einem Artikel, den jeder Medienmanager lesen muss: Die Zeitung erledigt einen «Job» nicht mehr so gut wie früher.

Ich wollte hier noch ein paar aus meiner Sicht falsche Gründe für das Scheitern der FR zusammen tragen, hab dann aber gefunden, dass Wolfgang Blau das bereits in einem Post bei Facebook getan hat. Wer keinen Facebook-Account hat: Meedia hat die Passage hierher kopiert: «Fragliches Konstrukt namens Tageszeitung». (Horizont.net, notabene Online-Ableger eines Print-Magazins, hat das gleiche gemacht, nur ohne Blau zu fragen. Aber morgen wieder nach Leistungsschutzrecht rufen…)

Wegen der zahlreichen differenzierten Kommentare, inbesondere eines ausführlichen Facebook-Kommentars von Wolfgang Blau selbst, der deutlich länger ist als der Originalbeitrag, lohnt es sich allerdings, den Text bei Facebook zu lesen. Dass die fundierteste Diskussion, die zumindest ich gesehen habe, bei Facebook stattfindet, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. (Werner D’Inka hat bei FAZ.net immerhin auch 25 Kommentare generiert, Blaus Noch-Arbeitgeber Zeit Online knapp 50. Darunter sind halt immer auch ein paar Deppen.)

Nicht aus dem Anlass, da im (monatlichen) Manager Magazin, aber zeitlich passend rührt Springer-Chef Mathias Döpfner gleich mal wieder die Trommel für Paid Content, mit dem martialischen Satz: «Hier entscheidet sich das Schicksal der Verlage.»

Das halte ich für übertrieben. Döpfner will vermutlich die Reihen schliessen, was legitim ist, aber Paid Content ist wohl eher ein Modul einer zukünftigen Digitalstrategie als das Allheilmittel.

Wir erinnern uns noch recht gut an die Döpfner-Aussage von April 2010 in der Talkshow von Charlie Rose (Video, Zitat ab 1:10), dass jeder Verleger Steve Jobs danken sollte, dass er «mit dem iPad die Verlagsbranche rettet». Davon hört man dieses Jahr nicht mehr so viel.

Wobei ich aus NZZ-Sicht durchaus bestätigen kann, dass das iPad einen enormen Einfluss hatte auf unsere Digital-Abos. Ich verrate kein Geheimnis, denn wir hatten bereits im Sommer das Wachstum der E-Paper-Abos auf über 10’000 kommuniziert. Ende September, also noch vor Einführung der Paywall, waren es schon über 11’000. Zur Einordnung: Die NZZ als E-Paper im Web (epaper.nzz.ch) gibt es seit rund zehn Jahren. In den ersten acht Jahren gewann man rund 1000 Abonnenten, in den letzten zwei Jahren seit Einführung des iPad – und der Bundles – dann 10’000. Das ist wohl der beste Wert im deutschsprachigen Raum, was Abos angeht, relativ zur Gesamtauflage sowieso.

Das ist toll. Ebenso übrigens wie die Zahlen der Paywall im ersten Monat, die mich sehr positiv überrascht haben. (Wir kommunizieren sie noch nicht.) Aber mittelfristig wird das noch nicht reichen. So wie es keinen alleinigen Grund für die Misere der Verlage gibt, schon gar nicht die vermeintliche «Gratiskultur», gibt es auch keinen alleinigen Retter, nicht das iPad (der European Newspaper Award von 2010 hat der «FR» herzlich wenig genützt), nicht die Paywall.

Ein Ansatz, der meiner Meinung in der deutschsprachigen Debatte bisher vernachlässigt wird, wäre die deutliche Steigerung der Reichweiten, und zwar nicht der Page Impressions mit Paginierung und aufgeblasenen Klickstrecken, sondern der User und der Visits. Jedes Online-Medium sollte sich dringend überlegen, wie es sowohl die Anzahl Besucher als auch die Anzahl Besuche durch dieselben in den nächsten beiden Jahren verdoppeln kann. (Ja, bei der NZZ sind wir noch nicht auf Kurs, was das angeht, das weiss ich natürlich selbst, und es bekümmert mich jeden Tag.) Die mobile Nutzung könnte hier ein Schlüssel sein; auch davon hört man eher zu wenig, vielleicht, weil viele Leute denken, mobilen Traffic könne man nicht monetarisieren. Letzteres dürfte sich bald ändern.

Für jede Nennung von «New York Times / Paywall» in einem deutschsprachigen Artikel sollte man zweimal «Huffington Post – Buzzfeed – Upworthy / Kuratierung – Social Media – Kommentare» oder was auch immer lesen. Nein, auch das ist wieder nicht der weisse Ritter. Aber wer denkt, Reichweite sei nicht mehr wichtig, weil jetzt die Paywalls kommen, macht den gefährlichsten Fehler von allen.

PS. Passte nirgends richtig rein: Wieso schreibt Werner D’Inka im gleichen Artikel: «Und hierzulande gibt es Hinweise darauf, dass der Leserschwund zum Stillstand kommt»? Hab ich was verpasst? Oder ist das das Pfeifen im Walde?