Als täglicher Pendler finde ich Leute, die selten Zug fahren, irgendwie putzig. Sie begegnen mir oft, aber nicht ständig, und eigentlich sollten sie daher eine Abwechslung sein von den jeden Tag gleichen Gesichtern wie der Frau, die in Wil zusteigt und in zehn Minuten die gesamte NZZ durchblättert, um sie dann schwungvoll rückwärts in die Gepäckablage zu werfen (wobei mich nicht das Werfen, sondern das Wegwerfen am meisten beeindruckt, weil ich das als notorischer Zeitungssammler (beim Auszug aus meiner Studentenwohnung musste ich mindestens 300 „Spiegel“ entsorgen) nie übers Herz bringen würde, schon gar nicht nach zehn Minuten).
Zurück zu den Gelegenheitsfahrern, die meist geschäftlich nach Bern müssen. Sie verabreden sich in dem Abteil, in dem ich sowieso immer sitze. Der eine fährt ab St. Gallen, der andere erst ab Gossau oder Flawil oder Uzwil oder Wil. Der schon drin sitzende wirkt immer ein wenig nervös, dass sie sich verpassen könnten, also ruft er den anderen vielleicht noch an oder smst, in welchem Wagen er sitzt, und an dessen Einsteigebahnhof guckt er hektisch dem Fenster, ob ihn vielleicht auf dem Bahnsteig stehen sieht – dann kann er schnell winken und sich danach entspannt zurücklehnen, weil das Treffen geklappt hat. Sonst steht er auf und hält noch kurz den Kopf aus dem Abteil, um auf Nummer sicher zu gehen.
(Man muss dazu wissen, dass die Beschreibung: „Ich bin im ICN im Businessabteil neben dem Speisewagen“ eigentlich bombensicher ist; da es dort nur 24 Plätze gibt, ist Verpassen praktisch unmöglich. Einzige Einschränkung: Meist fahren zwei identische Zugkompositionen aneinandergehängt, daher muss man sagen: „Ich bin im vorderen Zugteil im Businessabteil neben dem Speisewagen.“)
Wenn der zweite dann eingetroffen ist, begrüssen sie sich sichtlich erfreut mit: „Hoi Ruedi“ und „Sali Kurt“. Als erstes sprechen sie verlässlich darüber, wie früh es doch noch ist und wann beide aufgestanden sind. „Ich um halb fünf.“ – „Ich erst um viertel vor.“
Obwohl beide also eher selten Langstrecke fahren, haben sie ein Halbtax-Abo (super Wikipedia-Seite: Kundenkarten von Bahngesellschaften), wie sich das in der Schweiz gehört. Dennoch oder gerade deshalb müssen sie nun darüber sprechen, dass Zug fahren auch mit Halbtax ganz schön teuer geworden ist. „95 Stutz hab ich bezahlt.“ – „Ich hab eine Tageskarte für 90.- genommen, das ist billiger, hat sie gesagt.“ Das unscheinbare „sie“ deutet darauf hin, dass er das Ticket am Vortag am Schalter gekauft hat und nicht etwa am Automaten. Da der eine ganz offenbar einen Fehler gemacht hat – 5 Franken mehr ausgegeben trotz zehn Minuten kürzerer Strecke – wird das Thema rücksichtsvollerweise nicht vertieft.
Die grösste Hürde beim Zug fahren und daher auf jeden Fall vorausschauende Planung wert ist das Umsteigen. Ganz sicher hat daher mindestens einer von beiden – wenn es sich um eine Geschäftsreise handelt, meist der höherrangige, vielleicht sogar dessen Sekretärin – die Verbindung ausgedruckt (gern nicht in der Druckansicht, so dass der Ausdruck drei Seiten umfasst, von denen zwei Zeilen relevant sind) und zusammen mit dem Ticket in eine Klarsichtmappe gesteckt. Irgendwann zwischen Wil und Winterthur (also etwa eine halbe Stunde vor Zürich) holt dann der eine dieses Dokument hervor, und beide schauen gemeinsam, auf welchem Gleis in Zürich der Anschlusszug abfährt. Mein Lieblingsdialog: „Ah, Gleis 12, das ist ja gleich nebenan.“ – „Super, das ist ja praktisch.“ Stimmt, weil es in den 11 Minuten von 6.49 bis 7.00 Uhr auch knapp werden könnte, die 30 m bis Gleis 18 zu laufen, noch dazu mit dem kleinen Rucksack über der Schulter (der die Aktentasche abgelöst hat, ausser bei Juristen und Wirtschaftsprüfern).
Eine gewisse Beruhigung tritt ein, Zuversicht, dass man Bern wirklich pünktlich erreichen wird. Zusammenpacken und Aufstehen (und mit „Exgüsi“ an mir vorbeiwollen) tun sie dann sicherheitshalber trotzdem schon deutlich vor der Einfahrt in Zürich.
Während ich mal wieder hektisch fertigblogge, bis schon die Neuen eingestiegen sind. Die allerdings fahren logischerweise nicht nach Bern, sondern nach Lausanne, was sicher auch eine Geschichte wert wäre, die allerdings ein anderer Pendler schreiben muss.