Steve Ballmer meets Hermann Hesse: Zum Abschied von Blogwerk

Meine Rede zum Abschied bei Blogwerk nach dem Verkauf an die WEKA-Firmengruppe.

Gestern Abend haben wir bekannt gegeben, dass die Aktionäre die Blogwerk AG an die WEKA-Firmengruppe verkauft haben. Gleichzeitig war die Blogwerk-Büroeinweihung, bei der ich eine Rede gehalten habe. Sie war recht lang, was ich vorher wusste, aber es war nun mal die letzte Gelegenheit, alles zu sagen, was ich sagen wollte. Als Abtretender kann man sich das leisten, weil alle, die sich langweilen, denken: «Ist ja wenigstens das letzte Mal.» Ich habe aber von den Anwesenden viel positives Feedback erhalten, was mich sehr gefreut hat. Hier mein Manuskript:

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Zu Beginn eine Bitte: Bitte Smartphones wegstecken und kurz nicht twittern. Ich rede nur 45 Minuten, das haltet Ihr mal aus.

Ihr kennt sicher alle das Video von Steve Ballmer, das schon lange vor YouTube per E-Mail zirkulierte (das «virale» File hatte jemand dancemonkeyboy.avi genannt, weshalb das Video noch heute oft so bezeichnet wird), bei dem er auf die Bühne springt minutenlang rumtanzt und jauchzt, bevor er völlig ermattet ins Mikrofon schreit: I got four words for you: I love this company. Dafür hat er viel Spott geerntet, aber ich kann ihn gut verstehen, vor allem heute.

Dieses neue Büro, das wir heute einweihen, ist für Blogwerk ein Meilenstein, bei dem man automatisch zurückdenkt an andere Meilensteine.

Natürlich an ehemalige Büros: Das Büro in St. Gallen in der leeren Hauptpost, mit ihren leeren Räumen und leeren Gängen, in der man auch gut einen Horrorfilm hätte drehen können.

Das Büro bei Zeix, hier um die Ecke, wo wir uns sehr wohl gefühlt haben, auch wenn wir regelmässig daran erinnert wurden, dass wir beim WC-Papier gesponsert wurden. Olivia und ich haben uns vorgenommen, den Ausgleich beim WC-Papier irgendwann noch herzustellen. Aus dem Büro waren wir dann aber Anfang 2010 rausgewachsen, weil wir dringend aus diesem Gefühl der Untermiete raus mussten. Trotzdem nochmal herzlichen Dank an Zeix für die Starthilfe damals.

Um dann gleich wieder zur Untermiete woanders einzuziehen: in das Büro an der Stauffacherstrasse, für das ich mich immer etwas geschämt habe, weil es so klein war, und ich dachte, ich bin schuld, dass Ihr dort sitzt wie die Hühner auf der Stange, aber zu meiner Ehrenrettung muss ich sagen, ich wollte ja das grosse Büro daneben mieten, aber Jens von Mediafocus hat mich nicht gelassen.

Und nun dieses Büro hier: Bei dem jeder sieht: Jetzt ist Blogwerk eine richtige Firma, nicht mehr nur ein vergrössertes Wohnzimmer mit Sitzungstisch in der Mitte, Blogwerk ist jetzt auch hier professionell geworden, wie in anderen Bereichen ja schon längst.

Es gibt natürlich auch viele weitere Meilensteine, die nichts mit Büros zu tun haben, ich kann nur wenige aufzählen.

Zum Beispiel ein ganzseitiger Artikel in der SonntagsZeitung, nur ein paar Wochen nach der Gründung, von dem wir völlig geplättet waren, der sich dann aber leider ein totaler Verriss aus ideologischen Gründen unter dem Titel «Mit Blogs auf grosse Kasse hoffen» rausstellte, weil man dort dachte, wir wollten Journalisten ausbeuten – und das dürfen bekanntlich nur richtige Verlage, keine hergelaufenen Start-ups.

Der erste Firmenauftrag für die Erstellung von wiederkehrendem Content, dem Modell, das heute den Löwenanteil des Umsatzes ausmacht: C36daily für die Exhibit AG, Giancarlo Palmisani ist heute auch da.

Der erste Firmenauftrag für ein Corporate Blog: ebookers.ch.

Der erste Auftrag mit einem sechsstelligen Volumen, immer ein wichtiger Meilenstein für jede Firma: energiedialog.ch für Axpo.

Eine Spendenaktion, als wir medienlese.com einstellen wollten, bei der quasi über Nacht über 2000 Euro gesammelt wurden – was leider nicht geholfen hat.

Der grösste Meilenstein von allen liegt allerdings unmittelbar vor bzw. hinter uns: Wir haben vor einigen Tagen sämtliche Blogwerk-Aktien an die WEKA-Firmengruppe aus Deutschland verkauft.

Ich bin überzeugt, dass das eine gute Sache wird. Vor einem Jahr dachte ich noch, WEKA sei etwas verstaubt, aber da hatte ich mich geirrt. WEKA ist eine Firma, die inzwischen zwei Drittel ihres Umsatzes mit zugekauften Geschäften macht, was zeigt, dass sie das wollen und können, und WEKA ist die Umsetzung ihrer Digitalstrategie ganz offenbar ernst. Ausserdem habe ich die Herren, die ich kennenlernen durfte, vor allem Werner Pehland und Eberhard Opl, im persönlichen Kontakt als sehr angenehm schätzen gelernt, so dass ich überzeugt bin, dass sie für Kunden und Mitarbeiter von Blogwerk die richtige Wahl sind, um die Kontinuität zu gewährleisten, und zugleich den Drive zu entwickeln, Blogwerk ein noch schnelleres Wachstum zu erlauben, als wir das in den letzten Jahren allein geschafft haben.

Herr Pehland ist auch hier und wird im Anschluss einige Worte sagen.

Denkt jetzt bloss nicht, ich sei fertig. Jetzt, wo klar ist, dass das meine allerletzte Ansprache als irgendwas bei Blogwerk ist, müsst Ihr mir die restlichen 40 Minuten noch geben.

Das besondere an diesem Abschied ist nun, dass er zwar mit zwei Jahren Vorlauf kommt, in denen ich schon nicht mehr operativ tätig bin, aber dafür nun sehr abrupt ist: Ich bin nicht mehr VR-Präsident, ja, mit der Unterschrift unter dem Kaufvertrag habe ich quasi jede Bindung abgebrochen. Das schmerzt etwas, aber es ist auch richtig so.

Was werde ich vermissen? Natürlich sehr viel!

Am meisten wohl den Skype-Gruppenchat. 40% drehen sich nur um die Tatsache, wohin man Mittagessen geht, die für mich völlig irrelevant ist, ausser, dass ich immer schon um halb zwölf Hunger kriege, wenn die hier anfangen, übers Essen zu reden, weitere 40% sind unverständliche Insiderwitze – aber 20% sind spannende Facts und Figures, in denen ich schon viel Nützliches erfahren habe, mit dem ich gelegentlich an der Falkenstrasse als Immer-noch-Internet-Insider auftrumpfen konnte. Vor allem ist der Skype-Chat das Manifest einer Firmenkultur, die immer noch sehr cool, startup-mässig – und auch gnadenlos im Urteil ist. Mit einem anerkennenden Wort oder gelegentlich auch mal einem kleinen Ausdruck des Tadels positioniert das Blogwerk-Team sich im Online-Wertesystem. Etwa so: «Hier, geiler Scheiss: (link)» oder «Fremdschämen: (link).»

Nicht zuletzt habe ich natürlich Angst, wenn ich morgen aus dem Gruppenchat fliege, dass ich dann auch bei Fremdschämen vorkomme.

Ich liebe diesen Start-up-Groove auch nach sechs Jahren. Man kann abends spontan hinkommen, alle sitzen um den Tisch herum, es ist saugemütlich, man trinkt Bier und knobelt, wer Pizza holen muss, und ich fühle mich sofort zehn Jahre jünger.

Gern redet man ja bei solchen Anlässen über die schlechten Zeiten: Damals, nach dem Krieg, wir hatten ja nichts. Das will ich heute weitgehend vermeiden. Obwohl es stimmt, wir hatten wirklich nichts, damals, 2008. Mein Treuhänder, der damals meine Steuererklärung gemacht hat, hat wahrscheinlich gedacht: Dafür, dass der Hogenkamp an der HSG studiert hat, muss danach irgendwas ganz, ganz schief gelaufen sein.

Pit Sennhauser, damals noch im Silicon Valley, hat mal zu mir gesagt: Ich hab schon viel über diese Achterbahn der Gefühle in einem Start-up gehört, bei der jeden Tag zwischen Euphorie und Verzweiflung schwankt, aber man muss dabei sein, um wirklich zu wissen, wie es ist. Das ist einfach so.

Natürlich muss ich in dieser Abschiedsrede, die meine letzte Chance dafür ist, noch einigen Blogwerk-Alumni danken, willkürlich ausgewählt und nicht mal in chronologischer Reihenfolge:

Ronnie Grob
– der zwar nicht aussieht wie ein Schweizer Uhrwerk, aber so schreibt, wie man an seinem «6 vor 9» sieht, das wir beide uns damals in der erwähnten St. Galler Post ausgedacht haben, und das seit nunmehr sechs Jahren an jedem Werktag erscheint, seit August 2009 beim BildBLOG.

Damian Amherd
– der selbst ernannte Vorsitzende der Blogwerk-Alumni-Stiftung, der einer der furchtlosesten Praktikanten war, den ich je erlebt habe, der für mich die grössten Vorträge auf Zuruf übernommen hat – und den ich morgen wieder einstellen würde, egal für welchen Job.

Moritz Adler
Ich finde, man sollte Punkte vergeben dafür, wer gute Deutsche nach Zürich geholt hat – eine Art Natalie-Rickli-Gedächtnis-Badge. Und bei Moritz gehört der mir, und ich hab ihn sogar über Twitter geholt. Er war damals intensiv bei dem ersten grossen Auftrag dabei war und macht jetzt tolle Sachen bei local.ch – vor allem seine App-Download-Zahlen hätte ich sehr gern.

Florian Steglich
– über den werde ich hier nichts Nettes sagen, weil er zu spät kommt (das Tram hatte einen Unfall, nachträglich entschuldigt).

Philip Hetjens
– der uns erst ganz kürzlich verlassen hat und den ich heute Abend noch ganz dringend fragen muss, ob es bei Namics nun wirklich besser ist als hier, was ich mir natürlich partout nicht vorstellen kann. Ich hab Dir schon neulich gesagt, Philip, dass ich Dir nie vergessen werde, wie Du in Japan für uns von Gastfamilie zu Gastfamilie gereist bist und überall energiedialog.ch IE6-kompatibel gemacht hast. Wer IE6 kennt, weiss, was das bedeutet.

Nur ganz kurz erwähne ich hier drei, die auch Aktionäre waren und daher auf dem Weg schon ausführlich verdankt wurden, wie Andreas Göldi, dessen tolle Blogbeiträge ich immer noch vermisse, Pit Sennhauser, von dem die Laien unter uns, zu denen ich natürlich auch gehöre, viel über Journalismus gelernt haben, und Lea Barmettler, die jahrelang die Stellung als Mutter der Kompanie gehalten hat, bis sie leider der Online-Welt verloren ging und in die Physiotherapiebranche abrutschte.

Brigitte Federi, Karin Friedli und Mathias Vettiger
– denen ich die Gemeinheit angetan habe, sie einzustellen und direkt danach zu verschwinden, wofür ich bis heute ein etwas schlechtes Gewissen habe, auch wenn ich ja jeden Tag sehe, wie toll Ihr es hier habt ohne mich. Heute ist der letzte Tag, an dem Ihr mir verzeihen könnt! Bitte tut es!

Und natürlich danke ich dem ganzen Team, wozu ich heute morgen schon in einer kleinen Pre-Show um 9.00 Uhr Gelegenheit hatte.

Am Ende sind es aber von den vielen Namen aus sechseinhalb Jahren vor allem drei, denen ich heute nochmal insbesondere danken möchte:

Andreas Von Gunten
Du bist ein leuchtendes Vorbild für mich für das sonst eher albern klingende Wort «Empowerment»: die Mitarbeiter befähigen, grosse Dinge zu machen – im Gegensatz zu mir, der ich vorher gelegentlich gedacht hatte, am besten ist es, wenn ich alles allein mache. Dieses Vorbild hat mir auch bei der NZZ geholfen, wo man sowieso praktisch nichts mehr selbst macht.

Olivia Menzi und Thomas Mauch
Das gilt zwar für alle, aber trotzdem für Euch beide am meisten: Ohne Euch beide würden wir heute nicht hier stehen.

Wie Ihr das hier durchzieht, Respekt. Ich bin ja jemand, der gern auch mal Sachen nicht ganz sofort macht, sondern denkt, übermorgen langt wahrscheinlich auch noch. Insofern bin ich immer wieder schlicht platt, wenn ich Euer vorausschauendes Arbeiten und Euren Organisationsgrad und sehen. An der Stelle noch eine Frage: Wenn ich mal umziehe, kann ich mich dann vielleicht bei Euch melden? (Olivia schüttelte kurz, aber entschieden den Kopf.)

Ich war immer jemand, der alle paar Jahre was Neues gemacht hat, ich habe einen Drei- bis Vier-Jahre-Rhythmus, der sich durch mein Leben zieht.

«Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne», habe ich zu dem Thema immer gern zitiert – ehrlich gesagt, ich wusste nicht mal genau, von wem das ist. Das habe ich für heute mal nachgeschaut.

Wer weiss es? Vettiger? (Mathias Vettiger tippt erst Rilke, dann korrekt: Hesse.)

Ich habe seit der Schulzeit kein Gedicht öffentlich rezitiert, möchte das aber heute gern machen. Ist von 1941, aber immer noch gut:

Hermann Hesse: Stufen
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden…
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Wem das zu lang war: I got four words for you: I love this company!

Vielen Dank für alles! Ich wünsche Euch von Herzen alles Gute, und lasst uns Freunde bleiben, online und offline.

(Peter Hogenkamp hat den Skype-Chat verlassen: Donnerstag, 27. September 2012, 10.50 Uhr.)

Kommentar-Elitarismus bei NZZ Online: 26% werden gelöscht

Letzte Woche habe ich bei der Internet-Briefing-Veranstaltung „User Generated Content – keine Angst vor dem Kunden“ über „Online-Kommentare – mehr als Leserbriefe 2.0“ gesprochen. Ich hatte vorher und nachher ziemlichen Stress wegen einer Art Autopanne, daher hatte ich keine Zeit, etwas darüber zu schreiben. Marcel Bernet hat das dankenswerterweise bei sich gemacht.

Mein Vortrag wäre für den geneigten Leser unserer Blogs nicht überraschend gewesen, weil ich nur erzählt habe, was wir jeden Tag machen, und dass das „Kommentarwesen“ einen zwar machmal schon etwas stresst, aber dass die Kommentare insgesamt einen grossen Mehrwert darstellen, der deutlich höher einzuschätzen ist als das bisschen Ärger (bitte mir diese Passage vorlegen, wenn es demnächst mal wieder so weit sein sollte).

Unsere Kommentar-Policy, die es nicht einmal schriftlich gibt, beruht auf der Maxime: Wir schauen mal, was passiert, und greifen nur ein, wenn es unbedingt nötig ist. Meine „Top-Kommentarkiller“ hat jeder Blogger oder Blogleser schon einmal erlebt: Registrationszwang, manuelles Freischalten, Real-Name-Zwang, Kommentare löschen oder nicht beantworten, Korrekturen nicht in Beitrag einarbeiten, überhebliche oder aggressive Antworten.

Direkt nach mir kam Urs Holderegger von NZZ Online und stellte vor, was sie in dieser Hinsicht machen, denn seit dem Relaunch vom Juli 2007 kann man auch bei der NZZ kommentieren. (Auch dazu hat Marcel Bernet inzwischen seine Notizen gepostet: „NZZ Online: Leser droht mit Kommentar?„)

Der beste Satz von Urs war der erste: „Wir machen eigentlich alles das, was Peter als ‚Kommentarkiller‘ bezeichnet hat.“ Wenigstens sind sie erfrischend ehrlich. Sie haben andere News-Sites und die Diskussionen dort analysiert und einen eigenen Ansatz entwickelt, zu dem sie nun auch stehen (auch wenn Urs später beim Rausgehen halb entschuldigend meinte, er habe „halt eine 228-jährige Tradition da drüben“, auf die er Rücksicht nehmen müsse).

Den Ansatz halte ich allerdings grösstenteils für falsch. In Kurzform kann man sagen, dass NZZ Online es geschafft hat, das klassische „Leserbriefmodell“ der Zeitung – Leser schreibt als Reaktion auf Artikel, Zeitung entscheidet, was „abgedruckt“ wird, eine Diskussion der Leser untereinander findet nicht statt – ins Web zu portieren. Das kann man so machen, nur hat das nach meinem Verständnis mit User Participation im Sinne von Web 2.0 nichts zu tun.

Die beeindruckendste Zahl: Von 13 500 eingegangenen Kommentaren wurden 3 500 (26%) nicht freigeschaltet. Die Ablehnungsgründe, über die wohl weitgehend Konsens besteht (Rassismus, Sexismus, Beleidigungen) machen davon nur „rund 10%“ aus, der Rest wird gelöscht wegen fehlender Qualität. Wer sich „nicht genug überlegt hat“ (!), kommt nicht rein, das gilt für die Inhalte wie für formale Schwächen wie Rechtschreibfehler.

Interessant fand ich die Bemerkung, dass sie mit ihrem CMS Kommentare nicht editieren können. Ich hatte vorher gesagt, dass wir manchmal – sehr selten – etwas aus einem Kommentar rauseditieren und z.B. schreiben: „(Hier wurde ein Satz wegen … gelöscht.)“ Das kann die NZZ nicht, weil ihr CMS es nicht unterstützt – „bei uns gibt es nur Daumen hoch oder runter“.

In meinem Teil hatte ich gesagt, dass die Kommentatoren in den Blogwerk-Blogs für einen deutlichen Mehrwert sorgen. „Die Diskussionen in unseren Kommentaren finde ich inhaltlich viel spannender als den durchschnittlichen Leserbrief“, war meine Aussage. (Ehrlich gesagt habe ich mich hier etwas aus dem Fenster gelehnt, weil ich die Leserbriefseiten in Zeitungen nur sehr selten lese. Dieses tendenziell oberlehrerhafte Rumnörgeln von Leuten, denen ein Artikel zu rechts oder zu links oder was auch immer ist, kann ich nicht aushalten.) Das fand Urs natürlich nicht. Er meinte im Gegenteil: „Wer einen Leserbrief an eine Zeitung schreibt, der hat sich meist etwas überlegt und gibt sich entsprechend Mühe. Von Kommentatoren kann man das nicht immer sagen.“

Das mag sogar stimmen. Aber ich bin ganz dezidiert der Meinung, man muss auch die weniger hilfreichen Kommentare in Kauf nehmen, um auch die Perlen zu bekommen. Was die NZZ-Online-Redaktion ihrer Arbeit zugrunde legt, ist eine fiktive Kommentar-Qualitätsskala, sagen wir von 1 bis 100, mit der sie jeden Kommentar bewerten, und ab, sagen wir, 40 Punkten wird freigeschaltet. Ich bezweifle aber sehr, dass einerseits die mit der Selektion beauftragten Redaktoren alle mit der gleichen Skala messen, und andererseits ist völlig klar, dass die individuelle Bewertung eines Kommentars pro Leser teilweise stark abweichen dürfte.

Um mir selbst mal wieder zu vergegenwärtigen, wie „unsere Kommentare“ eigentlich sind, habe ich soeben die letzte Diskussion bei neuerdings.com nachgelesen, die mehr als zehn Kommentare ausgelöst hat; das war zu meinem iPhone-Artikel vom Montag. Von bisher 16 eingegangenen Kommentaren sind vier off topic, indem sie sich auf andere Dinge als den Inhalt des Artikels beziehen (Blogdesign, Mehrwertsteuer, WordPress, Verlosung), einer ist weitgehend inhaltsfrei, einer ist redundant, sieben sind Antworten auf die anderen Kommentare – und zwei sind sehr gut, indem sie aktuelle, weiterführende Links enthalten. Für diese beiden muss man halt die anderen „ertragen“, aber ich finde die anderen „Diskussionsfäden“ keineswegs völlig nutzlos.

Wie hätte diese Diskussion bei NZZ Online ausgesehen? Wäre überhaupt ein einziger Kommentar durchgekommen? Wahrscheinlich nur die beiden, aber wer weiss, ob die überhaupt gekommen wären, wenn vorher dort „Kommentare: 0“ gestanden hätte.

Nee, nee, das wär nichts für mich. Ich will genauso kommentieren und diskutieren wie es hier zu sehen ist und nicht anders. Dieses manchmal polemische, aber oft selbstironische, oft geschwätzige, aber genauso oft unschlagbar präzise und aktuelle, zwar manchmal anonyme, aber fast immer persönlich Stellung beziehende und daher authentische (auch wenn ich das Wort hasse) macht eben genau den Reiz aus.

Wir führen manchmal die Diskussion, ob wir überhaupt „echte Blogger“ seien oder eher ein Online-Verlag, und je nach Tagesform sind wir unterschiedlicher Meinung. Aber an dieser Stelle denke ich wieder, nein, wir sind eben doch waschechte Blogger.

Vielleicht in diesem Kontext ganz interessant ist ein Artikel über Kommentar-Usability, den wir (Zeix) im Oktober für die Netzwoche geschrieben haben: «Leserbriefe schreiben doch nur Rentner und Nörgler».)

neuerdings.com laut Wikipedia-Moderatorin „erkennbar irrelevant“

Ich liebe die Wikipedia. Ehrlich. Nutze sie ständig, korrigiere auch mal etwas, habe aber noch nie einen grösseren Text eingestellt. Wie 95% der Leute halt.

Offenbar gab es vor kurzem mal einen Eintrag über unser Blog neuerdings.com, der aber wieder gelöscht wurde. Den Inhalt kann man nicht mehr einsehen, der Text begann: “neuerdings.com“‘ ist eine Publ…“.

Von mir aus. Ich wusste nicht, dass es den Beitrag gab, ich weiss nicht, wer ihn geschrieben hat, und es macht mich auch nicht sehr betroffen, dass er wieder weg ist.

Ich selbst kann nicht sagen, ob das publizistische Angebot von neuerdings.com relevant für ein Online-Lexikon ist. Wir erreichen 120’000 Leute im Monat. Golem.de hat einen Eintrag, die sind aber auch (noch) um den Faktor 10 grösser als wir. Ich habe nicht nach weiteren Beispielen gesucht und auch nicht in vermutlich seitenlangen FAQ, wie die deutsche Wikipedia „relevant“ definiert. Ich kann wirklich nicht sagen, ob wir für einen Lexikonbeitrag schon relevant genug sind oder noch nicht.

Trotzdem ist die Begründung für die Löschung interessant, die man auf der Wikipedia-Seite Bearbeiten von Neuerdings.com einsehen kann.

Am 7. November 2007 um 19.36 Uhr löschte „Tilla“ den Eintrag und schrieb als kurze Begründung: „Erkennbar irrelevant. Webspam.“

Oops. Wie gesagt, ich bin überhaupt nicht sicher, ob wir „erkennbar relevant“ wären, aber ich bin mir doch einigermassen sicher, dass wir nicht „erkennbar irrelevant“ sind – wobei ich natürlich nicht weiss, wie lange die Prüfung dauerte, nach der Tilla dies erkannt hatte. (Und „Webspam“ sind wir schon mal gar nicht, das ist pure Polemik, aber was soll’s.) Die rund 2000 Leute, die gestern Nacht unsere iPhone-Live-Berichterstattung bei neuerdings.com mit verfolgt haben, fanden es offenbar relevant. (Natürlich kann man sagen, auch solche Events sei irrelevant, aber im iPhone-Eintrag gibt es einen Abschnitt über den Deutschland-Launch.)

Nochmal: Ich bin nicht beleidigt. Und auf die 50 User, die uns im Monat via Wikipedia-Beitrag finden würden, kann ich auch verzichten. Aber ich finde die Absolutheit der Aussage und den Tonfall bemerkenswert. Denn sie erinnert mich an den viel diskutierten Satz: „[…] Weblogs sind bestenfalls öffentlich einsehbare und dennoch private geführte Tagebücher, denen jede gesellschaftliche Relevanz fehlt“ aus dem berühmt-berüchtigten SZ-Artikel Abgebloggt.

Und spätestens hier frage ich mich: Hat vielleicht eine differenzierte Argumentation gar nichts mit 1.0 vs. 2.0, Papier vs. Print, etabliert vs. neu zu tun, sondern gibt es überall ein Establishment, das sich anmasst, mit einem Federstrich zu entscheiden, was relevant sei und was nicht? Und hat vielleicht die deutsche Wikipedia diesen Status auch schon erreicht, wo jemand in drei Wörtern sagen kann, ein Projekt, in das schon mehrere Personenjahre geflossen sind, sei „erkennbar irrelevant“? Das wäre dann schade um ein mir immer noch sehr sympathisches Projekt.

[via „mds“ per persönlicher Nachricht]

Noch eine kleine Ergänzung: Peter Sennhauser meinte, vielleicht sei der Beitrag „erkennbar irrelevant“ gewesen. Kann sein, aber zumindest mds und ich haben es beide anders verstanden.